SK 2013 106 - Vorladung Staatsanwaltschaft im Berufungsverfahren (Leitentscheid)
SK 2013 106
Urteil der 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern
Oberrichter Vicari (Präsident), Oberrichter Guéra, Oberrichterin Hubschmid Volz
Gerichtsschreiberin Rampa
vom 25. Juni 2014
in der Strafsache gegen
A.
vertreten durch Rechtsanwältin X.
Beschuldigter/Berufungsführer
gegen
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern
und
B.
Strafund Zivilkläger
wegen Raubes
Regeste
Legt die Staatsanwaltschaft die Strafe ins richterliche Ermessen und stellt ihr Verzicht auf die Teilnahme an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung der einzige Hinweis auf das beantragte Strafmass dar, liegt kein genügend konkreter Antrag zur Sanktion vor, weshalb die Staatsanwaltschaft vorgeladen werden muss.
Selbst wenn man diesen impliziten Antrag als genügend konkret erachten würde, muss das Gericht die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 337 Abs. 4 StPO vorladen, wenn es eine Freiheitsstrafe von über 12 Monaten in Betracht zieht.
Wird eine Verhandlung in Verletzung von Art. 337 Abs. 5 StPO trotz Fehlens der Staatsanwaltschaft durchgeführt, stellt dies eine klare Verletzung dieser Verfahrensregel dar, womit das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel im Sinne von Art. 409 Abs. 1 StPO aufweist.
Redaktionelle Vorbemerkungen
Der Beschuldigte/Berufungsführer wurde am 6. November 2012 von der Vorinstanz wegen Raubes zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt. Der zuständige regionale Staatsanwalt verzichtete auf eine persönliche Anklage vor Gericht.
Auszug aus den Erwägungen:
[ ]
6. Vorliegend stellt sich die Frage, ob die erstinstanzliche Verhandlung in Verletzung von Art. 337 StPO durchgeführt worden ist. Gemäss Art. 337 StPO kann die Staatsanwaltschaft dem Gericht schriftliche Anträge stellen persönlich vor Gericht auftreten (Abs. 1). Beantragt sie hingegen eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr eine freiheitsentziehende Massnahme, hat sie die Anklage persönlich vor Gericht zu vertreten (Abs. 3). Die Verfahrensleitung kann die Staatsanwaltschaft auch in anderen Fällen zur persönlichen Vertretung der Anklage verpflichten, wenn sie dies für nötig erachtet (Abs. 4). Liegen dem Gericht keine schriftlichen Anträge (zu den Sanktionen) vor, ist die Staatsanwaltschaft vorzuladen (Weber/Wildi, in: Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2011 [nachfolgend: BSK StPO], Art. 337 N 21). Denn die Staatsanwaltschaft hat in Anwendung von Art. 326 Abs. 1 lit. f StPO dem Gericht aus ihrer Sicht adäquate Sanktionen zu beantragen anzukündigen. Beantragte Freiheitsstrafen sind in Tagen, Monaten Jahren anzugeben; hinsichtlich Geldstrafen sind sowohl die Anzahl Tagessätze als auch die auszusprechende Tagessatzhöhe zu bestimmen. Ebenfalls ist zu beantragen, ob und inwieweit der bedingte Strafvollzug zu gewähren ist (Heimgartner/Niggli, BSK StPO, Art. 326 N 10). Erscheint die Staatsanwaltschaft nicht an der Hauptverhandlung, obwohl sie dazu verpflichtet wäre, so wird die Verhandlung verschoben (Abs. 5). Wird eine Verhandlung in Verletzung von Abs. 5 trotz Fehlens der Staatsanwaltschaft durchgeführt, stellt dies eine klare Verletzung dieser Verfahrensregel dar. Wird gegen ein solches Urteil als Ganzes in Teilen ein Rechtsmittel erhoben, ist es vor oberer Instanz zu kassieren und zur Neubeurteilung - unter Anwesenheit der Staatsanwaltschaft an die Vorinstanz zurückzuweisen (Weber/Wildi, BSK StPO, Art. 337 N 26).
7. Der Staatsanwalt hat in der Anklageschrift vom 5. März 2012 in Ziff. III. den Antrag gestellt, der Beschuldigte sei zu einer Zusatzstrafe zum Urteil des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom 9. Juni 2011 zu verurteilen; diese werde ins richterliche Ermessen gelegt (pag. 139). Wie die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht darauf hinweist, stellt vorliegend der Verzicht der Staatsanwaltschaft auf die Teilnahme an der Hauptverhandlung der einzige Hinweis auf das beantragte Strafmass dar (der Verzicht ist nur möglich bei einer Strafe unter einem Jahr Freiheitsstrafe, vgl. Art. 337 Abs. 3 StPO), was kein genügend konkreter Antrag zur Sanktion darstellt. Das erstinstanzliche Gericht hätte die Staatsanwaltschaft somit vorladen müssen. Der Generalstaatsanwaltschaft ist weiter zu folgen, wenn sie ausführt (vgl. pag. 333): Aber selbst wenn man diesen impliziten Antrag als genügend konkret erachten würde, hätte das Gericht die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 337 Abs. 4 StPO vorladen müssen. Fasst das Gericht nämlich eine höhere als die von der Staatsanwaltschaft beantragte Sanktion ins Auge, hat es nach Art. 337 Abs. 4 StPO vorzuladen (Schmid, Praxiskommentar, Art. 337 N 7). Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft zwar keinen konkreten Antrag zur Sanktion gestellt, aufgrund des Verzichts auf die Teilnahme aber implizit eine Sanktion von unter 12 Monaten Freiheitsstrafe „beantragt“. Da das Gericht offensichtlich eine Freiheitsstrafe von über 12 Monaten in Betracht gezogen hat, hätte es die Staatsanwaltschaft nach Abs. 4 vorladen müssen.
8. Aufgrund der gemachten Ausführungen kann festgestellt werden, dass die erstinstanzliche Hauptverhandlung im Verfahren wegen Raubes gegen den Beschuldigten/Berufungsführer in Verletzung von Art. 337 StPO durchgeführt worden ist, womit das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel im Sinne von Art. 409 Abs. 1 StPO aufweist. Das Urteil des Regionalgerichts Bern-Mittelland (Einzelgericht) vom 6. November 2012 wird deshalb aufgehoben und die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Urteils an das erstinstanzliche Gericht zurückgewiesen.
[ ]